Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die sogenannte Evidenz-basierte Medizin das Ideal der wissenschaftlich orientierten medizinischen Praxis. Ihre maßgeblichen Säulen sind die externe Evidenz aufgrund von klinischer Forschung und die ärztliche Expertise aufgrund von klinischer Erfahrung (sowie die Patientenperspektive auf der Grundlage der Werte und Präferenzen der Patienten) (1):
„Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz ‚tyrannisiert‘ zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen.“ (1) – Beides ist für eine Evidenz-basierte Medizin nötig: externe Evidenz und ärztliche Expertise.
In der heutigen Evidenz-basierten Medizin wird nicht beachtet, dass nicht nur das Erzeugen von verlässlicher externer Evidenz, sondern auch das Erzeugen von verlässlicher ärztlicher Expertise auf wissenschaftliche Forschung gestützt werden kann. Die betreffende Forschung ist allerdings sehr unterschiedlich:
Das Gewichtungsverhältnis von externer Evidenz und ärztlicher Expertise
Das gegenseitige Gewichtungsverhältnis von externer Evidenz und ärztlicher (bzw. therapeutischer) Expertise kann je nach medizinischer Disziplin und Therapie unterschiedlich ausfallen. Zum Beispiel: Im Bereich der Physiotherapie ist eine Behandlungswirksamkeit oft unmittelbar am einzelnen Patienten beurteilbar, nicht aber im Bereich der präventiven Arzneitherapien. Einmal kann die ärztliche bzw. therapeutische Expertise genügen, einmal kann eine randomisierte Studie nötig sein. Pauschale Vereinheitlichungen dieses Verhältnisses sind nicht sachgemäß.
Zur externen Evidenz
Das klassische Modell zur Erzeugung von externer Evidenz findet sich in der konventionellen Arzneimittelforschung. Hier wird mit präklinischer Forschung im Labor begonnen, gefolgt von klinischer Forschung (Phase I, II, III, IV). Diese Abfolge ist allerdings für nicht-pharmakologische Therapien wie z. B. Physiotherapie ungeeignet, denn sie wird nicht in der Petrischale oder im Reagenzglas untersucht und entwickelt, sondern direkt in der klinischen Praxis. Ähnliches gilt für Arzneitherapien, die nicht in Molekularmechanismen und Zellularprozessen, sondern in Ordnungen von Gestaltbildungskräften (morphogenetic forces) begründet sind. Diese kommen in der Hauptsache nicht im Labor zur Geltung, sondern nur im Organismus selbst (siehe 6. Basisforschung in Wissenschaft und Philosophie). Außerdem besteht eine besondere Situation, wenn nicht eine nach ICD (International Classification of Diseases) definierte Erkrankung behandelt wird, sondern die sich pathologisch auswirkende Konstellation von Gestalt- bzw. Innerlichkeit-bildenden Kräften (siehe 3. Evaluation der Anthroposophischen Medizin) oder ein Konstitutionsaspekt des Patienten oder eine Symptomkonstellation nach dem sogenannten Arzneimittelbild (siehe 4. Evaluation der Homöopathie).
Zu dem klassischen Modell der konventionellen Arzneimittelforschung gehört das übliche Verfahren der Arzneimittelzulassung mit der Forderung nach einer randomisierten, verblindeten Studie im Vergleich zu Placebo oder Standardbehandlung. Hierdurch entsteht folgendes Normbild von geprüfter klinischer Wirksamkeit:
Die Gültigkeit dieses Normbildes ist allerdings eingeschränkt:
Vor diesem Gesamthintergrund wurden im IFAEMM alternative Möglichkeiten der Gewinnung von externer Evidenz entwickelt:
Zur ärztlichen Expertise
Die ärztliche bzw. therapeutische Expertise erstreckt sich auf die Arzt-Patient-Beziehung und insbesondere auf das Diagnostizieren und Therapieren. Diese Expertise kann hinsichtlich externer Evidenz verschiedene Aufgaben übernehmen:
Gewisse Anfänge von derart individueller Wirksamkeitsbeurteilung werden in der Medizin längst praktiziert (auch wenn bislang die betreffende Methodik und ihre Kriterien nicht bewusst reflektiert sind). Dies mag auch einer der Gründe sein, warum sogar in einem so forschungsintensiven medizinischen Bereich wie der Kardiologie immerhin 55% der Leitlinienempfehlungen auf bloßer Experteneinschätzung beruhen und nur 14% auf Level-A-Evidenz (1).
Für die Zukunft der Evidenz-basierten Medizin sollte nicht nur die Menge an externer Evidenz weiter akkumuliert werden, es sollte auch die Methodik der ärztlichen bzw. therapeutischen Urteils- und Erfahrungsfähigkeit weiter formal professionalisiert werden.
Auch hierzu gibt es Beiträge des IFAEMM, und auch diese werden im Weiteren dieser Webseite noch dargestellt.
Integrative Evaluation
Eine strategische Frage für die Evidenz-basierte Medizin ist: Wie können externe Evidenz und ärztliche Expertise in den verschiedenen medizinischen Bereichen so miteinander integriert werden, dass eine jeweils adäquate evidenzbasierte Medizin entsteht?
Diese Frage ist besonders brisant bei einem System wie dem der Anthroposophischen Medizin, das auch spezifische Arzneimittel umfasst. umfasst. Die Evaluation dieses Therapiesystems ist ein Arbeitsschwerpunkt des IFAEMM (siehe 3. Evaluation der Anthroposophischen Medizin). Folgende kumulierte Schwierigkeiten bestehen hierbei: 1) Die Therapiekonzeptionen sind nicht im Labor entwickelt; 2) die Therapien werden primär oft jenseits der gängigen ICD-Indikationen eingesetzt; 3) die Bedeutung von individualisierter Behandlung und Beurteilung wird stark betont; 4) die Zurückhaltung gegenüber der Teilnahme an randomisierten klinischen Studien ist groß; 5) die finanziellen Ressourcen sind im Verhältnis zu den Kosten von relevanten konfirmatorischen Arzneimittelstudien begrenzt. 6) Überhaupt liegt dem Verständnis von Mensch und Natur eine andere Ratio zugrunde als dem partikularistischen Wirklichkeitsverständnis der gegenwärtigen Naturwissenschaft (siehe 3.1 Das grundsätzlich Besondere der anthroposophisch orientierten Medizin).
Für die Evaluation eines derartigen Therapiesystems ist erforderlich:
Im IFAEMM wurden methodologische Entwicklungsbeiträge zu allen diesen Punkten der Gesamtevaluation geleistet. Dies wird in den folgenden Kapiteln an konkreten Evaluationsbeispielen dargestellt.
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