3.1 Das grundsätzlich Besondere der anthroposophisch orientierten Medizin

In der praktischen Ausführung ist die anthroposophische mit der konventionellen Medizin verbunden und ergibt gemeinsam mit ihr eine Form der Integrativen Medizin. Die Anthroposophische Medizin hat hierbei eine eigene konzeptionelle und methodische Basis und ist in diesem Sinne ein eigenständiges Therapiesystem (Whole Medical System). Hierfür gibt es in Deutschland den Terminus der „Besonderen Therapierichtung“. Er wurde im Kontext des deutschen Arzneimittelgesetzes geprägt und dann in das Sozialgesetzbuch übernommen. Die Bedeutung dieses Begriffs erstreckt sich auf das Verständnis von

  • Organismus,
  • Krankheit,
  • Diagnose,
  • Therapie,
  • Therapieevaluation.

Diese Aspekte der AM werden im Folgenden kurz charakterisiert. 

Organismus

Das Organismusverständnis der Anthroposophischen Medizin  weicht von jenem reduktionistisch-atomistischen Paradigma ab, das die gesamte Lebenswelt auf der Grundlage von atomar-molekularen Wechselwirkungen zu erklären versucht. Der Grund für die Abweichung vom Reduktionismus-Paradigma sind dessen Gültigkeitsbeschränkungen. Dieses Paradigma ist außerstande, die Gestaltbildung und -erhaltung von komplexen funktionsfähigen Organismen zu erklären. Die Anthroposophischen Medizin geht folgendermaßen über dieses Paradigma hinaus:

  • Es existieren außer den Grundkräften der Physik noch spezifisch gestaltbildende Kräfte. Sie sind in Organismen wirksam und können wissenschaftlich erforscht werden.
  • Es hat die Existenz und Wirksamkeit dieser Kräfte unmittelbare Konsequenzen auch für das Verständnis von Materie. Diese hat außer ihrer atomar-molekularen Binnenstruktur noch weitere Eigenschaften.

Nachzulesen in folgender IFAEMM-Publikation (1, 2): 

  1. Kiene H, Hamre HJ. A fundamental question for complementary medicine: Are there other forces in the natural world besides the physical forces? Complement Med Res. 2023 Oct 19, 1-7. DOI: 10.1159/000534592. Epub ahead of print. PMID: 37857264.
  2. Kiene H, Hamre HJ. Eine zentrale Frage zur Komplementärmedizin: Gibt es in der Natur außer den physikalischen Grundkräften noch weitere Kräfte? Complement Med Res. 2023 Dec 11, 1-7: DOI: 10.1159/000534899
  • Zusätzlich zu den Kräften bzw. Kraftsystemen der Gestaltbildung gibt es auch noch spezifische Kraftsysteme für die Bildung von Innerlichkeit und Bewusstsein, und zwar speziell bei jenen Organismen, die ausgestattet sind mit Gliedmaßen, Sinnesorganen, Nerven und Blutkreislauf. 

Die genannten Punkte 1-3 konstituieren ein besonderes Psychosomatik-Verständnis oder besser gesagt ein konkretes Interaktions-Verständnis für Körper, Seele und Geist. Dieses Interaktions-Verständnis kulminiert in dem Konzept der Dreigliederung des menschlichen Organismus. Die betreffenden drei Glieder werden als „Nerven-Sinnes-System“, „Rhythmisches System“ und „Stoffwechsel-Gliedmaßen-System“ benannt, was für die herkömmliche Sicht auf Natur und Mensch ungewohnte Bezeichnungen sind. Diese drei Glieder umfassen die Physiologien der betreffenden Organe (Sinnesorgane, Gliedmaßenorgane, Nerven usw.), die betreffenden Prozesse (Wahrnehmungsprozesse, rhythmische Prozesse, Stoffwechselprozesse usw.) und vor allem auch die mit diesen Organen und Prozessen verbundenen Gestaltungskräfte und -prinzipien.

Das Dreigliederungskonzept erstreckt sich auch die Funktionen und Strukturen konkreter Einzelorgane und bietet hierbei ein großes Potential für neue Entdeckungen. Exemplarisch wurde dies dargestellt für die Kardiologie  (1): 

  1. Kiene, H. Zum Verständnis der Herzkonstitution. Teil 1: Die dreigliedrige Struktur und Funktion des Herzens. Der Merkurstab 2020;73(5):296-309. DOI: 10.14271/DMS-21263-DE 

Krankheit

Aus dem genannten Organismusverständnis ergibt sich ein erweitertes Verständnis auch von Krankheit. Eine Krankheit ist hiernach nicht nur ein Defekt auf zellulärer und molekularer Ebene (Zellularpathologie, Molekularpathologie), sondern betrifft auch die Ebene der gestaltbildenden und -erhaltenden Kräfte und somit die real übergeordneten Regulationsebenen.

Diese Sicht von Krankheit wird auch durch die naturwissenschaftliche Forschung nahegelegt, beispielsweise für den Bereich der Onkologie (1, 2): 

  1. Kienle GS, Kiene H. From reductionism to holism: Systems-oriented approaches in cancer research. Global Adv Health Med 2012;1(5):68-77.  Volltext (PDF)
  2. Kienle GS, Kiene H: Beyond Reductionism – zur Notwendigkeit komplexer, organismischer Ansätze in der Tumorimmunologie und Onkologie. In: Kienle GS, Kiene H: Die Mistel in der Onkologie. Fakten und konzeptionelle Grundlagen. Schattauer Stuttgart New York 2003, S. 333-409.

Diagnostik

Das erweiterte Verständnis von Organismus und Krankheit schlägt sich in einer entsprechenden Theorie und Praxis der Diagnostik nieder. Herkömmlich ist eine Diagnose die Benennung einer schwerwiegenden strukturellen oder funktionellen Beeinträchtigung eines Organs oder eines Zell- oder Molekülverbands oder die Benennung einer schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung. Nach anthroposophischen Verständnis gehört zu einer Diagnose auch ein Erkennen der beeinträchtigten Konstellation der Gestalt- bzw. Innerlichkeit-bildenden Kräfte des betreffenden individuellen Patienten. Eine derartige Diagnose bewegt sich jenseits des Rahmens der International Classification of Diseases (ICD). 

Therapie

Dem erweiterten Organismus-, Krankheits- und Diagnoseverständnis folgen auch die Therapien. Ihr primärer Fokus liegt auf der Ebene der Regulation des Organismus durch die genannten Gestaltungskräfte. Dies gilt sowohl für die nicht-pharmakologischen Therapien (z. B. Eurythmietherapie, Rhythmische Massage, Kunsttherapie) als auch für pharmakologische Therapien. Hierdurch unterscheidet sich die anthroposophische Arzneitherapie gegenüber der konventionellen wie folgt:

  • Die Arzneistoffe (mineralischen, botanischen, zoologischen Ursprungs) werden nach ihrer spezifischen Beziehung zu den Gestaltbildungskräften und den entsprechenden Regulationsebenen im Menschen ausgewählt.
  • Die Arzneimittel werden (damit sie therapeutisch auf die Ebene dieser Gestaltungen und Regulierungen einwirken können) anders konzipiert als in der sonstigen Pharmakologie und mit anderen Techniken hergestellt als in der sonstigen Pharmazeutik. 
  • Die Arzneitherapie kann zielgerichtet sein, wenn der behandelnde Arzt für die o. g. Art von Diagnostik ausreichend ausgebildet ist und imstande ist, der betreffnden Diagnostik ein entsprechendes potentiell wirksames Arzneimittel zuzuordnen. Damit eine derartige Arzneitherapie effektiv realisiert werden kann, muss der Arzt auf ein großes Repertoire an Arzneimitteln zurückgreifen können. Das ist der Grund, weswegen von den einschlägigen Arzneimittelherstellern eine sehr große Anzahl von Arzneimitteln vorgehalten wird. 
  1. Baars EW, Kienle GS, Heusser P, Pedersen PA, van Wietmarschen HA, Kiene H, von Schön-Angerer T, Hamre HJ. Anthroposophic Medicinal Products: A literature review of features, similarities and differences to Conventional Medicinal Products, scientific and regulatory assessment. Global Adv Health Med 2022;11(1):1-17. DOI: 10.1177/21649561211073079

Evaluation der Therapie, insbesondere der Arzneitherapie

In der konventionellen Medizin erfolgt die Entwicklung und Erforschung von Arzneimitteln meist 

  • zuerst als präklinische Forschung im Labor, 
  • dann als klinische Forschung mit den Phasen I, II, III, IV. 

Für die Anthroposophische Medizin hat die präklinische und klinische Forschung allerdings – wegen der o.g. Punkte 1-4 (Organismus, Krankheit, Diagnostik, Therapie) – eine andere Funktion und Struktur:

Präklinische Laborforschung

  • Konventionell gilt: Bei präklinischer pharmakologischer Laborforschung werden Wirkungen von Pharmaka auf Materialien untersucht, die denen in den Organismen entsprechen, oder es werden Tierversuche durchgeführt. Aus den Ergebnissen derartiger in-vitro- bzw. in-vivo-Untersuchungen werden Rückschlüsse auf eventuelle Möglichkeiten zur Behandlung des menschlichen Organismus gezogen. Da jedoch die Situation im Gesamtorganismus wegen der Vielfalt physiologischer Wechselwirkungen komplexer ist als unter Laborbedingungen, können die Laborergebnisse nur beschränkt auf den menschlichen Organismus übertragen werden. Aus diesem Grunde ist zusätzlich eine originär klinische Forschung nötig.
  • Bei Therapien der Anthroposophischen Medizin gilt: Hier ist der Wert von präklinischer Forschung nochmals deutlich eingeschränkter. Da der primäre Fokus der Arzneitherapie auf den Gestaltungskräften und den entsprechenden Regulationsprinzipien der Organismen liegt (siehe o.g. Punkte 1-4) und da diese naturgemäß in der Hauptsache nur im Organismus wirksam sind, nicht aber in vitro, können explorative Laborexperimente im Allgemeinen nicht die Ausgangsgrundlage für die Therapieentwicklung sein. Derartige Laborexperimente können allenfalls der experimentellen Bestätigung dienen, dass es bestimmte Arzneimittelwirkungen im Prinzip überhaupt geben kann, z. B. Wirkungen von hochpotenzierten Substanzen (Homöopathie und Wissenschaft) oder Mistelextraktwirkungen auf onkologisch relevante in-vitro-Systeme (Misteltherapie). 
     

Klinische Forschung

Wegen der beschränkten Übertragbarkeit präklinischer Forschungsergebnisse auf die reale therapeutische Situation am Menschen ist zusätzlich eine originär klinische Forschung erforderlich. Durch sie entsteht Evidenz-basierte Medizin. Deren maßgebliche Faktoren sind die sogenannte externe Evidenz aufgrund von formalisierter Forschung und die ärztliche Expertise (sowie die Patientenperspektive). Wegen der oben genannten Punkte 1-5 ist für die Evidenzbasierung der anthroposophischen Medizin eine besondere Art der gegenseitigen Gewichtung von externer Evidenz und ärztlicher Expertise notwendig. Hierfür ist – zusätzlich zu den oben skizzierten Erweiterungen des Verständnisses von Organismus, Krankheit, Diagnose und Therapie – auch eine erweiterte Methodologie der Therapieevaluation nötig. 

Der Leser wird deshalb verwiesen auf das Kapitel:

--> 2 Methodologie klinischer Forschung 

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